Degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule (Teil 2)
Pathologische Veränderungen der Wirbelsäule bei Degeneration
Anliegen dieser Artikelreihe über degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule ist, über die Anatomie und Mechanik sowie die Ursachen und die klinische Diagnostik von degenerativen Erkrankungen peziell der Lendenwirbelsäule zu informieren. Spezifische Erkrankungen der Brustwirbelsäule werden aufgrund ihrer Seltenheit an dieser Stelle nicht vorgestellt.
Pathologische Veränderungen der Bandscheiben bei Degeneration
Die spezielle Versorgungssituation der Bandscheiben (keine Vaskularisation) macht sie für degenerative Prozesse besonders anfällig. Einseitig starke Druckbelastungen oder geringe Regenerationszeiten verschlechtern die Versorgung mit der Folge einer rascheren Degeneration, als es unter normalen Bedingungen der Fall ist.
Mit dem Begriff Degeneration bezeichnet man funktionelle und/oder in der Struktur stattfindendeVeränderungen einer Zelle, eines Gewebes, eines Organs oder des gesamten Organismus, die im Vergleich zur vollen physiologischen Leistungsfähigkeit eine Verschlechterung darstellen. Erkrankungen, die zu einer fortschreitenden Degeneration führen, nennt man degenerative Erkrankungen (DocCheck Flexicon).
Grundsätzlich kann die Degeneration der Bandscheiben in zwei unterschiedlichen Formen – akut und chronisch progredient – auftreten. Diese führen wiederum zu unterschiedlichen pathologischen Veränderungen zwischen den benachbarten Wirbelkörpern
Bandscheibenprotrusion und Bandscheibenprolaps
Bei der akuten Degeneration der Bandscheibe kommt es zu Rissbildung innerhalb des Anulus fibrosus. Durch Druckbelastung der Bandscheibe dringt Nucleus pulposus-Gewebe in den Anulus fibrosus hinein. Bei weiterhin bestehendem Druck und weiterem Nachgeben des Anulus kann dieser reißen, was sich als Bandscheibenprolaps äußert.
Die Bandscheibenvorwölbung innerhalb des Anulus, vor allem gegen das hintere Längsband, wird Bandscheibenprotrusion genannt. Der Faserring (Anulus fibrosus) ist bei einer Protrusion zwar geschädigt, aber funktionell intakt. Ca. 55% der arbeitenden Bevölkerung haben eine Bandscheibenprotrusion, ohne jedoch dass Schmerzen oder andere Probleme auftreten. Die Protrusion gilt daher als die erste Stufe der Degeneration von Bandscheiben.
Als einen Bandscheibenprolaps (Bandscheibenvorfall) bezeichnet man den Austritt von Bandscheibenmaterial (Nucleus pulposus) aus dem degenerativ vorgeschädigten und eventuell gerissenen Faserring (Anulus fibrosus) in den Spinalkanal.
Ein Prolaps führt zu einer Überdehnung des dorsalen Längsbandes. Diese Dehnung verursacht die typische Lumbalgie ("Hexenschuss"). Liegt die Schädigung im Anulus weiter lateral, (seitlich) so kann schon eine Protrusion zu einer Kompression der Nervenwurzeln führen, insbesondere wenn diese Protrusion sehr weit seitlich liegt. Normalerweise ist jedoch die Protrusion klinisch überwiegend durch Rückenschmerz (Lumbago, Hexenschuss) gekennzeichnet.
Bei komplettem Zerreißen des Anulus tritt Nucleus pulposus Gewebe weiter nach hinten aus. So lange es unter dem Längsband liegt, ist von einem gedeckten Vorfall die Rede. Meist entwickelt sich der Vorfall nicht medial (in der Mittelinie der Längsachse), sondern weiter lateral (zu einer Seite hin), da an diesen Stellen der Faserring am schwächsten ausgeprägt ist.
In der Regel sind die Schmerzen bei einem Prolaps intensiver als bei einer Protrusion und können zu motorischen oder sensiblen Ausfällen führen. Die Art der Ausfälleg erlaubt häufig schon eine Zuordnung zu dem Wirbelsäulensegment, in dem der Bandscheibenvorfall stattgefunden hat.
Chronischer Verlauf bei Bandscheibendegeneration
Auf Grund der verschiedenen Schädigungsmöglichkeiten, die bei der langsam progredienten Degeneration des Bewegungssegmentes auftreten können, existieren klinisch sehr unterschiedliche Krankheitsbilder. Im Folgenden wird beim chronischen Verlauf der Segmentdegeneration zwischen einer Bandscheibendegeneration ohne Translation bzw. mit Translation unterschieden.
Bandscheibendegeneration ohne Translation
Bei zunehmender Degeneration der Bandscheibe kann es zu einer langsamen Verringerung der Bandscheibenhöhe kommen. Die Wirbelkörper rücken näher zusammen. Diese sich langsam entwickelnde Einengung kann eine Nervenwurzelkompression verursachen, die meistens aufgrund des langsamen Schmerzverlaufes von dem akuten Bandscheibenvorfall unterschieden werden kann. Nervenwurzelkompressionen bei langsam progredienter Segmentdegeneration lassen sich auch durch anatomische Veränderungen erklären, die im Bewegungssegment (zwei Wirbelkörper mit dazwischen liegender Bandscheibe) an den verschiedenen Strukturen auftreten können. Die Sinterung ("Stauchung") der Bandscheibe ist mit einer zunehmenden Instabilität des Bewegungssegmentes verbunden.
Rückenschmerzen (Lumbalgien) sind entweder die Folge von Kompensationsveränderungen wie z.B. die Verdickung von Gelenkkapseln oder das das Auftreten von Nervenwurzelirritationen. In ungünstigen Fällen mündet der chronische Verlauf in einer Spinalkanalstenose, insbesondere dann, wenn bereits vor der Segmentdegeneration eine anlagebedingte grenzwertige Weite des Spinalkanals vorliegt.
Bandscheibendegeneration mit Translation
1. Die degenerative Spondylolisthesis
Der chronische Verlauf der Bandscheibendegeneration mindert die Belastbarkeit gegen Kräfte- und Biegemomente. Deswegen kommt es langsam zu einem Ventralversatz des kranial gelegenen Wirbelkörpers gegen den kaudalen Wirbelkörper, meist in der Lendenwirbelsäule (L4 gegenüber L5). Im Klartext: Der obere Wirbelkörper des Bewegungssegmentes rutscht nach vorne.
Der nach vorne gerichtete Versatz, bedingt durch die verminderte Resistenz des Bewegungssegmentes gegen Scherkräfte, führt immer zu einer sekundären Spinalkanalstenose. Diese Stenose kann durch den Versuch der Selbstheilung des Bewegungssegmentes verstärkt werden (Verdickung der Ligamente und der Gelenke).
Der Prozess der degenerativen Spondylolisthese verläuft langsam. Die Beschwerden, die in den verschiedenen Stadien auftreten, sind unterschiedlich. Sie beginnen meist mit reinen Kreuzschmerzen und führen dann langsam auch zu erheblichen ein- oder zweiseitigen Beinschmerzen, die später mit einer neurogenen Claudicatio intermittens können.
Neurogene Claudicatio (intermittens): Die Schmerzen strahlen oft lumboischialgiform ("hexenschussartig") in die Beine aus, treten typischerweise beim Gehen nach unten auf und lassen bei Gehpausen nach, was als intermittierend (zeitweise aussetzend oder nachlassend) bezeichnet wird. Durch Hinsetzen oder Vorbeugen bessern sich die Schmerzen. Oft beobachtet man zudem eine Unsicherheit beim Gehen (Ataxie) und Kribbelparästhesien, selten ist der Patient nur durch Rückenschmerzen behindert.
2. Die degenerative Lumbalskoliose
Der Begriff "degenerative Lumbalskoliose" (DLS) ist erst vor einigen Jahren in die Nomenklatur der Wirbelsäulenpathologien eingeführt worden (SAS-Kongress in Dublin 1984), da es lange gedauert hat, die wesentlichen Merkmale der DLS herauszufinden. Die DLS tritt zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr auf und entwickelt sich aus einer vollkommen normalen, geraden Wirbelsäule heraus.
Die Erkrankung beginnt meist am Bewegungssegment L3/ L4 und L2/L3. Im weiteren Verlauf kommt es hier zu erheblichen Verkrümmungen mit Lateralversatz (lateraler Offset), was unter Belastung zu Stenosen des Spinalkanals führt. Im Gegensatz zur degenerativen Spondylolisthese spielt sich die DLS nicht nur an ein oder zwei Segmenten ab, sondern ist über die gesamte LWS verteilt.
Die klinische Symptomatik ist sehr unterschiedlich. Im Vordergrund der Beschwerden (60-70%) stehen Rückenschmerzen, die durch mehretagige Segmentinstabilität zu erklären sind. Daneben können eine Nervenwurzelkompressionssymptomatik und Zeichen der neurogenen Claudicatio auftreten.
Zudem ist eine DLS häufig auch mit einer ausgeprägten Entlordosierung der LWS verbunden, welche zu einem starken Überhang des Rumpfes nach vorne führt (lumbale Kyphose).
Quellen und Lesetipps:
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Der Artikel ist die Fortsetzung von
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"Degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule (Teil 1) -
Die Wirbelsäule: Anatomie und Funktion als Grundlage zum Verständnis degenerativer Erkrankungen."
www.ihrarzt.de
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"Degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule (Teil 1) -
-
Die Brust- und Lendenwirbelsäule
Modul 1: Anatomie und Untersuchung degenerativer Erkrankungen
Prof. Dr. med. J. Harms
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Die degenerative Lumbalskoliose
Anatomie, Klinik und Therapie
Pabst Science Publishers -
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Video (englisch):
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