22.07.18

Anliegen dieser Artikelreihe über degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule ist, über die Anatomie und Mechanik sowie die Ursachen und die klinische Diagnostik von degenerativen Erkrankungen speziell der Lendenwirbelsäule zu informieren. Spezifische Erkrankungen der Brustwirbelsäule werden aufgrund ihrer Seltenheit an dieser Stelle nicht vorgestellt.

Kurze Bermerkungen zu degenerativen Rückenschmerzen

Der anatomische und funktionelle Aufbau der Wirbelsäule des Menschen begünstigt die Entstehung und Entwicklung von Rückenschmerzen. Sie zählen zu den großen Gesundheitsproblemen in Deutschland. In orthopädischen Praxen sind  mehr als 40% aller Behandlungsfälle mit Rückenschmerzen assoziiert.

Die Ursachen von Rücken- oder Kreuzschmerzen sind meist multifaktoriell oder unspezifisch, d.h. es existierenen entweder mehrere auslösende, schmerzverursachende oder keine feststellbaren Auslöser für die Entstehung der Schmerzen.  Bei einem Teil der Patienten lassen sich die Schmerzen jedoch klar einer Erkrankung der Wirbelsäule zuordnen. Häufig handelt es sich bei solchen Erkrankungen um eine Degeneration des Bandscheibengewebes, die zu pathologischen Veränderungen wie Bandscheibenprotrusion oder Bandscheibenprolaps führen kann.

Mit dem Begriff Degeneration ("Entartung") bezeichnet man funktionelle und/oder morphologische (die Gestalt und Struktur betreffende) Veränderungen einer Zelle, eines Gewebes, eines Organs oder des gesamten Organismus, die im Vergleich zur vollen physiologischen Leistungsfähigkeit eine Verschlechterung darstellen. Erkrankungen, die zu einer fortschreitenden Degeneration führen, nennt man degenerative Erkrankungen. Umgangsprachliche Synonyme für die Degeneration sind "Rückbildung" , "Verschleiss" und "Verfall" (DocCheckFlexicon).

Auffallend ist die ungleiche Verteilung der Bandscheibenerkrankungen innerhalb der Wirbelsäule:

  1. Mit zwei Drittel der Fälle überwiegen die Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule

  2. Für ein Drittel der Gesamterkrankungen sind Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule verantwortlich.

  3. Bandscheibenleiden im Bereich der Brustwirbelsäule sind mit 2% eher selten

Als Folge einer Degeneration der Bandscheiben oder anderer Bereiche der Wirbelsäule können knöcherne Veränderungen wie die Spondylarthrose, Spinalkanalstenose, degenerative Spondylolisthese die degenerative Lumbalskoliose auftreten. Von den genannten Veränderungen ist die Spinalkanalstenose, die typischerweise in der 6. bis 8. Lebensdekade auftritt, von besonderer Bedeutung, da sie im klinischen Alltag zunehmend häufig diagnostiziert wird.

  1. Spondylarthrose
    Auftreten von chronisch degenerativen Veränderungen (Arthrose) an den Wirbelgelenken bezeichnet (DocCheck) .

  2. Spinalkanalstenose
    Von den Wirbelkörpern gehen zu beiden Seiten Querfortsätze und nach hinten der Wirbelbogen ab, der den Wirbelkanal (Spinalkanal) bildet. Im Wirbelkanal verläuft das sehr empfindliche Rückenmark.Kommt es zu einer Verengung (medizinisch Stenose) des Wirbelkanals, spricht die Medizin von einer Wirbelkanalverengung bzw. von einer Spinalkanalstenose (leading medicine guide) .

  3. Spondylolyse
    Bildung eines Spalts in der Pars interarticularis eines Wirbelbogens bezeichnet, d.h. dem Bereich zwischen dem oberem und unteren Gelenkfortsatz des Wirbelbogens (Doccheck).

  4. Spondylolisthesis
    Bei Vorliegen einer Spondylolyse auftretendes Abgleiten eines Wirbels nach ventral ("vorne") (Doccheck).

  5. Skoliose
    Bei einer Skoliose ist die Wirbelsäule dreidimensional verbogen und verdreht. Diese Wirbelsäulenverkrümmung tritt meistens im Wachstumsalter auf und kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Lumbalskoliose ist eine Abweichung der Lendenwirbelsäule ("Kreuz").

Erkrankungen der Lendenwirbelsäule sind nicht nur meistens sehr schmerzhaft und die Lebensqualität mindernd, sondern haben auch eine erhebliche volkswirtschaftliche Relevanz. So spielen gerade chronisch verlaufende  und bandscheibenassoziierte Erkrankungen bei der frühzeitigen Verrentung eine bedeutende Rolle.

Anatomie der Wirbelsäule

Die Wirbelsäule wird in fünf Abschnitte unterteilt:

  1. Pars cervicalis (Halswirbelsäule, HWS) mit sieben Wirbeln

  2. Pars thoracalis (Brustwirbelsäule, BWS) mit zwölf Wirbeln

  3. Pars lumbalis (Lendenwirbelsäule, LWS) mit fünf Wirbeln

  4. Os sacrum (Kreuzbein) aus fünf verschmolzenen Wirbeln

  5. Os coccygis (Steißbein) aus drei bis fünf verschmolzenen Wirbelrudimenten.

Die Wirbel sind durch Zwischenwirbelgelenke (Facettengelenke), Bänder und Zwischenwirbelscheiben (Bandscheiben, Disci intervertebrales) zu einer stabilen, aber auch beweglichen Gliederkette verbunden. Dabei spielt das sogenannte "Bewegungssegment" als kleinste Einheit für den funktionalen Aufbau der Wirbelsäule eine bedeutende Rolle. Es besteht jeweils aus zwei Wirbeln und der dazwischenliegenden Bandscheibe.

Für die Funktion der Wirbelsäule sind die Bandscheiben von großer Bedeutung. Neben der Bewegungsfunktion haben sie eine Pufferfunktion und gewährleisten die Druckverteilung innerhalb des Bewegungssegmentes.

Darüber hinaus spielt auch die nervale Versorgung der Bandscheibe bei der Entstehung von Beschwerden eine große Rolle. Im Bereich des vorderen und des hinteren Längsbandessind die Bandscheiben stärker innerviert. Kommt es durch  pathologische Veränderungen innerhalb der Bandscheibe zu einer Druckbelastung auf das hintere Längsband, werden lumbale Schmerzsyndrome ("Kreuzschmerzen") ausgelöst.

Schmerzen durch Druckbelastung auf das hintere Längsband stellen häufig die Vorstufe eines Bandscheibenvorfalles dar.

Die Biomechanik des Bewegungssegmentes und der Wirbelsäule

Das Verständnis der Biomechanik ist von grundlegender Bedeutung, um pathologische Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule und die daraus resultierenden pathomechanischen Konsequenzen zu verstehen und um die erforderlichen therapeutischen Maßnahmen herzuleiten und zu akzetieren. Das Basismodell nach Panjabi und White zeigt die einwirkenden Kräfte auf die Wirbelsäule.

Die resultierende auf die Wirbelsäule einwirkende Kraft ist abhängig von der Gesamtgröße der aufgebrachten Kraft und ihrer Wirkrichtung in Bezug auf die Hauptachsen der Wirbelsäule und die Belastung im Bewegungssegment.

Die aus diesem Zusammenspiel und diesen Abhängigkeiten resultierenden Kräfte lassen sich, unterschieden nach ihrer Wirkrichtung (stark vereinfacht) in zwei Hauptkräfte bündeln:

  1. Kompressionskraft für den "Zusammenhalt" des Bewegungselementes (vergleichbar einem "Schraubstock" oder einer "Zuggurtung")

  2. Scherkräfte, die das "Gleiten" der Wirbelkörper in sagittaler Richtung (zum Rücken und zum Bauch)  begünstigen

Diese einwirkenden Kräfte stehen bei einer gesunden Wirbelsäule unter physiologischen Bedingungen  im Gleichgewicht, d.h. sie kompensieren sich gegenseitig. Dieses Gleichgewicht ist jedoch dynamisch! Ändern sich Bewegung und Belastung der Wirbelsäule bei Arbeit, Sport und allen anderen Tätigkeiten, muss sich das Gleichgewicht sofort und schnell neu justieren.

Gewährleitste wird diese Balance durch ein aktives Zuggurtungs- und Kraftverteilungssystem auf Grundlage unserer Rückenmuskulatur, unterstützt durch die Passivelemente Knochen, Bandscheiben und Bänder. Daneben kommt den Wirbelgelenken eine besondere Bedeutung zu,. Über sie werden die stabilisierenden Kräfte in das Wirbelsegment eingeleitet. Das bedeutet, dass schon leichtere Schädigungen innerhalb des Wirbelsegmentes und innerhalb der Gelenke zu entsprechenden pathomechanischen Veränderungen führen können.In der Folge entwickeln sich Muskelverspannungen und Rückenschmerzen.

Die therapeutische Konsequenz

Als therapeutische Konsequenz ist aus diesen sehr komprimiert dargestellten biomechanischen Zusammenhängen folgendes abzuleiten:

  1. Eine Schädigung der ventralen ("vorderen, zum Bauch gelegenen") Säule erfordert eine ventrale Abstützung! Inwieweit eine zusätzliche dorsale Instrumentation notwendig ist, hängt vom Ausmaß der Schädigung und der Effizienz der Rekonstruktionen der vorderen Säule ab.

  2. Im Umkehrschluss ist eine Schädigung des hinteren Bandapparates mit deutlichem Verlust der Balance des Systems verbunden und erfordert auf jeden Fall eine Rekonstruktion des hinteren Gliederkettensystems, um überhaupt die für die Stabilität notwendige Zuggurtungskraft aufbringen zu können.

Die wichtigste Schlussfolgerung aus den biomechanischen Zusammenhängen für den Patienten aber bleibt die Notwendigkeit der Stärkung der Rückenmuskulatur durch effizientes Training und die Reduktion der einwirkenden Kräfte, insbesondere der Scherkräfte, durch Gewichtsabnahme!

Legenden zu den Bildern

Bild 1

  1. Wirbelkörper
    verleihen Stabilität. Zwischen den Wirbelkörpern liegen die Bandscheiben.

  2. Wirbelkanal
    Übereinandergelgt bilden diese Bögen einen Kanal, durch den das Rückenmark verläuft

  3. Gelenkfortsätze
    Bilden die Gelenke, über die die Wirbel gelenkig verbunden sind (Facettengelenke). An den Gelenkflächen (Hellblau) kann Arthose entstehen.

  4. Querfortsätze
    dienen dem Ansatz von Rückenmuskulatur

  5. Dornfortsätze
    dienen ebenfalls dem Ansatz von Rückenmuskulatur. Sie sind auf dem Rücken als "Wirbelsäule" tastbar.

 

  • Grüner Kreis
    "Foramina intervertebralis". Durch diese Öffnung ziehen Spinalnerven vom oder zum Rückenmark, Veränderungen an der Knochenstruktur der Wirbel führt zu Druck auf diese Nerven und somit zu Schmerzen oder Mißempfindungen.

  • Graue Fläche
    Zwischenruam für die Bandscheibe

Bild 2

Rückenmark, Spinalnerven und Wirbelsäule. Aus diesser Abbildung wird deutlich, dass Veränderungen oder Fehlstellungen von Wirbelabschnitten zur Verletzung oder anderer Beeinträchtigung der Nervenfasen führen können.

Bild 3

Aufbau einer Bandscheibe mit zentralem Nucleus pulposus und peripherem Anulus fibrosus.

Bild 4

Auf die Wirbelsäule einwirkende Kräfte (originär und als Resultat).

Quellen:

  • Die Brust- und Lendenwirbelsäule
    Modul 1: Anatomie und Untersuchung degenerativer Erkrankungen
    Prof. Dr. med. J. Harms
    Zertifizierte Fortbildung für Ärztinnen und Ärzte

    arztCME
  • Spondylarthrose
    Spondylolyse
    Spondylolisthesis

    DocCheckFlexicon
  • Spinalkanalstenose
    Ursachen, Symptome, Therapie

    leading-medicine-guide (Deutscher Verlag für Gesundheitsinformation GmbH)