13.11.17

Arthrose, Rückenschmerzen oder Verletzungen. Glaubt man den Frauen, sollen Männer intensiver leiden. Aber ist das auch wirklich wahr? Ein kurzer Einblick in den aktuellen Stand der Forschung.

Männerschmerzen

Bei der winzigsten Erkrankung fühlen sie sich gleich vom Aussterben bedroht, ein harmloser Schnupfen führt sie an den Grabesrand, beim Fußball vom Gegner leicht touchiert, fallen sie schreiend zu Boden und bleiben minutenlang wimmernd liegen, alleine die Vorstellung einer Blutentnahme macht die sofortige Einnahme von Kreislaufmitteln zur Kollapsvermeidung notwendig. Sind Männer wirklich wie so oft behauptet wird, derartige Weicheier?

Interessanterweise ist die geschlechtsspezifische Schmerzforschung ein noch ziemlich junges Wissenschaftsgebiet. So gibt es erst seit den 1990er Jahren ernstzunehmende Studien, und das bedeutet, dass wir eigentlich fast ausschließlich über Daten hinsichtlich Medikamentenwirkungen bei Männern verfügen.

Warum ist das so? Männliche Daten waren für die Pharmafirmen wesentlich einfacher zu erheben. Männer sind Wesen ohne zu berücksichtigende gröbere hormonelle Schwankungen und werden nicht schwanger. Und gerade das Risiko einer fruchtschädigenden Wirkung eines Medikamentes ist der “Worst Case” in den Vorstellungen eines jeden Pharmakonzerns. Von daher ist es nur zu verständlich, dass diese Firmen den vermeintlich leichteren Weg gewählt haben.

Trotzdem ist es gut, dass mittlerweile geschlechtsspezifische Studien durchgeführt werden, da Männer und Frauen auch bei Medikamenten Wirkungen und Nebenwirkungen zwei völlig unterschiedlichen Gattungen anzugehören scheinen. Doch im Gegensatz zu den landläufigen Vorstellungen vom leidenden Mann wissen wir heute, dass Frauen häufiger Schmerzempfinden und mehr Schmerzareale angeben als Männer. Wir wissen auch, dass Schmerzen bei Frauen länger anhalten, öfter chronifizieren und dass die Schmerzschwelle und die Schmerztoleranz niedriger sind als bei Männern. Insgesamt haben Frauen eine deutlich höhere Schmerzsensibilität.

Interessant ist hierbei, dass es vor dem Eintritt in die Pubertät keine klar beschreibbaren Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung zwischen Jungen und Mädchen gibt, wohl aber in Bezug auf die Schmerzbewältigungsstrategien. Und so befinden wir uns wieder im kulturellen, bzw. im gesellschaftlichen Kontext, denn es sind sicherlich auch ein Stück weit Erlerntes und anerzogene Verhalten, dass Mädchen mehr Zuwendung erfahren und diese dann auch suchen, während Männern und Jungen mit Sätzen wie "reiß dich mal ein bisschen zusammen", "beiß auf die Zähne" oder "stell dich nicht so an" bei Schmerzen eher auf sich selbst zurückgeworfen werden. Auf diesem Weg lernt man als Heranwachsender natürlich schnell, dass hier die ersehnte Zuwendung eher über Tapferkeit zu erreichen ist.

Ebenso interessant ist, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Schmerztoleranz ab dem fünfzigsten bis siebzigsten Lebensjahr wieder deutlich abnehmen. Das bedeutet konkret, dass Frauen genau in den Jahren ihrer Fortpflanzungsfähigkeit ein gegenüber Männern hochgeregeltes Schmerzempfinden besitzen.

Alles eine Frage der Hormone?

Nicht alles! Aber Hormone scheinen hier einen ganz wesentlichen Stellenwert einzunehmen. Wir wissen zum Beispiel, dass nach einer Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau und einer entsprechenden Gabe weiblicher Sexualhormone das Risiko, chronische Schmerzen zu entwickeln, um circa dreißig Prozent steigt. Genauso wissen wir, dass bei der Umwandlung von Frau zum Mann beispielsweise chronische Kopfschmerzen um circa fünfzig Prozent zurückgehen.

Männer und Frauen

Warum nehmen Frauen Schmerzen früher und vor allem intensiver wahr?

Wenn wir uns die verschiedenen Hormone genauer ansehen, dann gibt es deutliche Hinweise, dass das männliche Sexualhormon Testosteron sich eher entzündungshemmend, das weibliche Hormon Östrogen dagegen eher entzündungsfördernd verhält. Schmerz und die dadurch provozierte Ausschüttung von Botenstoffen, die wiederum unsere Schmerzrezeptoren aktivieren, hat ganz viel mit Entzündung zu tun, so dass man durchaus wissenschaftlich belegt konstatieren kann, dass Testosteron in der Tat schmerzunempfindlicher macht.

Gibt es Ausnahmen?

Interessant wird es, wenn man sich mit der Hormonsituation der Frau während einer Schwangerschaft beschäftigt. Denn hier kommt es zu einem deutlichen Anstieg von Progesteron, dem sogenannten Gelbkörperhormon. Gerade dieses Hormon macht nachweislich wieder schmerzunempfindlicher. Das ist natürlich außerordentlich hilfreich, um die Schmerzen und den Stress einer Geburt halbwegs zu ertragen und gut durch diese Zeit zu kommen. Daneben erklärt es, warum Frauen immer mit dem Hinweis auf Schmerzhafte Geburten argumentieren können bzw. punkten wollen, darüber diskutiert wird, ob Männer oder Frauen schmerzempfindlicher sind.

Außerhalb von Schwangerschaften scheint sich allerdings kein Selektionsnachteil für die Frauen aus ihrer erniedrigten Schmerztoleranz ergeben zu haben. Auch im modernen Alltag sind keine Nachteile erkennbar.

Gibt es Belege oder ist das alles graue Theorie?

Dass die Schmerzempfindungsfähigkeit von Frauen insgesamt schärfer geschaltet ist als bei Männern, kann man durch eine Reihe von Tests gut belegen. So beschreiben Frauen in der Regel einen Hitzereiz ab 47 °C als nicht mehr erträglich, während Männer hier eine Schmerztoleranzgrenze von 50 °C als nicht mehr tolerabel empfinden. Selbstverständlich gilt hier der Durchschnitt, denn natürlich gibt es auch beinharte Frauen und mimosenhafte Männer.

Ähnliche Werte zeigen sich bei Kältereizen oder einem weiteren standardisierten Test - dem sogenannten Daumennageldruckschwellentest. Hier wird ein bestimmtes Gewicht auf den Daumennagel aufgelegt und die Schmerztoleranzgrenze ermittelt. Frauen liegen auch hier deutlich unter der männlichen Toleranzgrenze.

Ganz besonders interessant wird dabei auch ein weiteres Phänomen. Schmerzen härten uns nämlich nicht ab, sondern machen uns im Gegenteil immer empfindlicher. So gaben Frauen mit chronischen Rückenschmerzen die Toleranzgrenze im Daumennageldrucktest bei 3,9 Kilogramm an. Bei Frauen mit Fibromyalgie-Syndrom lag der Wert sogar nur bei 3,5 Kilogramm, während gesunde Probandinnen bis zu 5,6 Kilogramm auf dem Daumennagel ertrugen.

Aber auch fernab der Hormone gibt es erhebliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Schmerzverarbeitung. Männer können nachweislich ihre schmerzhemmenden Systeme, unter anderem das Endorphin-System, wesentlich besser aktivieren als Frauen, und auch im Gehirn sind verschiedene Areale in der Schmerzbewältigung unterschiedlich aktiv. Dies kann man wunderbar über funktionelle Kernspintomographien darstellen, bei denen sich bei experimentell gesetzten Schmerzreizen besonders aktive Hirnareale farblich darstellen.

Bei Männern sind es eher die analytischen Zentren der Hirnrinde, die dann auf Hochtouren laufen, während bei Frauen das limbische System sehr viel aktiver ist. Das ist der Ort des Gehirns, der für die Verarbeitung von Emotionen und die Entstehung von Triebvehalten verantwortlich ist. Vereinfacht gesagt: Dort sitzen die Gefühle. Das heißt, Frauen haben eine wesentlich emotionalere Schmerzverarbeitung als Männer.

Abseits der Hormone

Es gibt noch weitere gravierende Unterschiede, beispielsweise was den Bedarf an Opioid-Schmerzmitteln angeht. So brauchen Männer circa fünfzig Prozent mehr Morphin, um eine ähnliche Schmerzlinderung zu erreichen wie Frauen. Das liegt aber nicht daran, dass Männer schmerzempfindlicher sind, sondern daran, dass bei Frauen ein höheres Bindungspotential für Morphin nachgewiesen werden konnte.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass Frauen - insbesondere zwischen der Pubertät und der Menopause - deutlich schmerzempfindlicher sind, häufiger Migräne, Spannungskopfschmerz, Reizdarmsyndrom, Fibromyalgie und Rheumaschmerzen haben, eher dazu neigen, chronische Schmerzen zu entwickeln, aber auch generell anders mit ihrem Schmerz umgehen als Männer. Sie reden mehr darüber, sie klagen eher über ihre Beschwerden, kommen aber über ihre Verarbeitungsmechanismen oftmals gesellschaftlich besser mit ihren Schmerzen zurecht als Männer. Diese wiederum neigen wesentlich stärker zum sozialen Rückzug.

Auch die Unterschiede bei Frauen und Männern bezogen auf Wirkungen und Nebenwirkungen verschiedener Medikamente sind derart eklatant, dass es für die Forschung hier noch unendlich großen Nachholbedarf gibt. Insgesamt stehen wir beim Studium der geschlechtspezifischen biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau noch ganz am Anfang eines sehr langes Weges. Der aktuelle Wissensstand deutet aber schon heute mehr als deutlich daraufhin, dass Schmerz weiblich ist.

Quelle

Der Text stammt zu großen Teilen aus dem Bestseller " Schmerz Los Werden: Warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich hilft" von Lars Amend (Autor) und Prof. Dr. med. Sven Gottschling (Autor). Das Buch ist schon wie der erste Band der beiden Autoren ("Leben bis zuletzt: Was wir für ein gutes Sterben tun können") leicht verständlich geschrieben und vermittelt eindrucksvoll Eindrücke aus dem Umgang mit Schmerzen und dessen Therapie. Nicht umsonst waren beide Bücher lange Zeit in den Bestsellerlisten.

  • Schmerz Los Werden: Warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich hilft
    Lars Amend (Autor), Prof. Dr. med. Sven Gottschling (Autor)
    Broschiert: 272 Seiten
    Verlag: FISCHER Taschenbuch; Auflage: 1 (21. September 2017)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3596299225
    ISBN-13: 978-3596299225