12.08.13

Die Prognose für unspezifischen Rückenschmerz, der in den Industriestaaten zur Epidemie geworden ist, ist weit schlechter als allgemein angenommen, warnten Experten/-innen auf dem Europäischen Schmerz-Kongresses EFIC 2011in Hamburg. Rückenschmerz, dem keine spezifische Ursache zugeordnet werden kann, erfordert verstärkte Forschungs- und Rehabilitationsanstrengungen, um Behandlungsoptionen zu verbessern.

„Dass 80 Prozent der Patienten/-innen, die wegen unspezifischer Rückenschmerzen in Krankenstand gehen, ihre Arbeit binnen weniger Wochen wieder aufnehmen, führte zu der weit verbreiteten Fehlauffassung, dass sie in dieser Frist von ihren Schmerzen genesen. Für die große Mehrheit von 65 Prozent sieht die traurige Wahrheit jedoch so aus, dass der Schmerz chronisch wird”, so Prof. Dr. Maarten van Kleef (Maastricht, NL).

„Die Folgen sind persönliches Leid und enorme sozioökonomische Auswirkungen, denen bei weitem kein ausreichendes Augenmerk gewidmet wird. Jüngste Studien und systematische Datenauswertungen zeigen, dass die Prognose für Patienten/-innen mit Rückenschmerzen alles andere als gut ist. Diese ungünstigen Ergebnisse sind selbst zu vielen Primärversorgern/-innen und Entscheidungsträgern/-innen des Gesundheitswesens noch nicht durchgedrungen. Wir müssen daher unsere Anstrengungen verstärken, diese Information zu verbreiten und die Prävention ebenso wie wirkungsvollere Therapien vorantreiben. Nicht zuletzt müssen wir ein neues Klassifikationssystem für unspezifischen Rückenschmerz erarbeiten, das diesen in Sub-Gruppen unterteilt, um für jede dieser Gruppen maßgeschneiderte Therapien entwickeln zu können.“

Unspezifischer chronischer Rückenschmerz: Unterschätzte Epidemie
Anders als spezifischer Rückenschmerz – Schmerz, der einer anerkannten Diagnose wie einer Infektion, Osteoporose, Krebs oder einer Wirbelfraktur zugeordnet werden kann – geht unspezifischer Rückenschmerz in der Regel auf Abnützungsprozessen in einem oder mehreren Abschnitten der Wirbelsäule zurück.

Während der vergangenen Jahrzehnte hat sich Rückenschmerz in den Industrieländern geradezu epidemisch ausgebreitet. 60 bis 90 Prozent der Bevölkerung leiden zumindest einmal im Leben an einer der Spielarten von Rückenschmerz – 30 bis 50 Prozent davon an Nackenschmerzen, 16 bis 20 Prozent an Schmerzen der Brustwirbelsäule und mehr als 70 Prozent an Schmerzen der Lendenwirbelsäule. Rund 95 Prozent dieser Schmerzphänomene sind “unspezifischer” Natur.

Chirurgie ist keine Standardtherapie
Viele wissenschaftliche Arbeiten befassen sich mit der Behandlung von Rückenschmerz und liefern neue Belege für wirksame Behandlungsoptionen. Auf dem Gebiet der Pharmakologie ist der Gebrauch von NSAIDs (entzündungshemmenden und schmerhemmenden Medikamenten) und schwachen Opioiden nur kurzfristig empfehlenswert.

Der Einsatz von Antidepressiva, Muskelrelaxantien und Capsaicin-Wärmepflastern kann erwogen werden, so Prof. van Kleef. „Die multidisziplinäre Rehabilitation umfasst eine Kombination aus körperlichem Training, funktionaler Wiederherstellung und kognitiver Verhaltenstherapie”, so der Experte. „Wir sehen aber, dass die Wirksamkeit solcher Interventionen moderat ist.”

Vorsicht ist gegenüber neuen, minimal-invasiven Verfahren angebracht, wie etwa der direkten Infiltration von Kortikosteroiden in den Spinalkanal, gesteuert durch computer-unterstützte Bildgebung. „Die wissenschaftlichen Belege für diese Interventionen sind schwach, sie können den Schmerz bei sorgfältig ausgewählten Gruppen von Patienten/-innen aber manchmal reduzieren.”

Chirurgische Eingriffe gegen chronischen Rücken- und Nackenschmerz beruhen auf der Annahme, dass sich der Schmerz lindern oder beseitigen lässt, wenn die symptomatisch schmerzhaften Segmente der Wirbelsäule unbeweglich gemacht werden. Randomisierte Studien, die solche Eingriffe mit konventionellen Therapiemethoden verglichen, zeigen jedoch, dass gängige Rehabilitationsprogramme genauso wirksam sein können wie eine Operation, warnte Prof. van Kleef. „Wirbelfusion oder der chirurgische Totalersatz von Bandscheiben sollte daher nicht als Standardbehandlung gegen chronischen Rückenschmerz eingesetzt werden. Sie sollten nur in Betracht gezogen werden, wenn mindestens zwei Jahre intensiver konservativer und minimal-invasiver Schmerztherapieprogramme den Schmerz und die Behinderung Betroffener nicht erleichtern konnten.”

Neue Klassifikation gefordert
„Es gibt ganz erstaunliche Defizite sowohl in Bezug auf das Verständnis der grassierenden unspezifischen Rückenschmerzen als auch in Bezug auf adäquate Optionen, um mit ihnen umzugehen”, so Prof. van Kleef. „Wir brauchen dringend eine Nomenklatur, die darüber hinausgeht, Rückenschmerz einfach als ‘unspezifisch’ zu klassifizieren.

Wir benötigen relevante Sub-Gruppen, um Ort und Ursache des Schmerzes zu beschreiben, wie zum Beispiel Schmerz aufgrund von Bandscheibenproblemen, Schmerz aufgrund der Degeneration der kleinen Gelenke, die die Bewegungen der Wirbelsäule lenken, oder Schmerz aufgrund der Degeneration des Iliosakralgelenks. Das würde das weite und undifferenzierte Feld ‘nichtspezifischer Schmerzen’ in klinische Phänomene unterteilen, die auf dem gleichen Schmerzmechanismus beruhen und daher wahrscheinlich die gleiche Kombination von Behandlungen erfordern werden. Wir erwarten uns davon mehr und bessere Rückenschmerzforschung und zielgenauere Strategien für die Behandlung der Patienten/-innen.”

Quelle:
Die entsprechende Dokumentation wurde von Prof. Van Kleef in Zusammenarbeit mit seinen Kollegen Dr. Paul Willems, Prof. Dr. Rob Smeets, Dr. Jacob Patijn and Drs. Jose Geurts vom Maastricht Spine Center erstellt.

Diese Pressemitteilung wurde auf openPR veröffentlicht.